Kurzgeschichte: Das eckige Ei

Ulla stakste zu Otto. Endlich hatte er aufgehört zu krähen. Sein Blick haftete auf der Geflügelwoche, die vor ihm auf dem Boden lag.

„Ist das die neueste Ausgabe?“, fragte Ulla.

Der Hahn schaute sie durch eine Brille mit winzigen, runden Gläsern an. Wo hatte er die denn her?

„Kannst du überhaupt lesen?“, krächzte er.

Frechheit. Dachte Otto, Hühner wären dumm?

Nach einer gefühlten Ewigkeit machte er sich mit kräftigen Flügelschlägen vom Acker. Ulla schnappte sich die Zeitung und widmete sich dem Titelblatt. Sie erfuhr, ein Huhn aus der Nachbarschaft war vor einen Traktor gelaufen. Man konnte nicht vorsichtig genug sein.

Weiter unten stand, dass zwei Hennen aus diesem Gehege fünfjähriges Legejubiläum feierten, was Ulla längst wusste. Sie überflog eine Anzeige für leistungsstarke Stallheizungen. Die sollte der Bauer mal lesen.

Mit dem Schnabel blätterte sie die Seiten um und blieb an einem Text hängen, der ihren Herzschlag beschleunigte.

Für das Osterfest suchen wir außergewöhnliche Eier.

Gegenleistung: 200 Gramm Körner der Marke Schnabelgold.

Firma Karl Freitag

Ulla liebte dieses Futter! Leider gab es das hier nur äußerst selten.

Firma Karl Freitag? Der Betrieb befand sich in der Nähe. Warum sollte sie nicht mal dort hingehen? Sie quetschte sich durch das Loch im Zaun, das sie gelegentlich für Spaziergänge in der Umgebung nutzte. Schon bald hörte Ulla lautes Gackern. Unzählige Artgenossinnen drängten sich vor einer Halle. Hier musste es sein. Es würde allerdings lange dauern, bis sie an der Reihe war. Außerdem fehlte ihr eine Idee, wie sie ihre Eier anpreisen konnte. Sie lief mehrmals grübelnd um den Block.

Die Sonne senkte sich bereits über den Horizont, als Ulla wieder vor dem Werkstor stand. Kein Huhn mehr weit und breit. Ein muskulöses Langohr schaute auf sie herab und winkte sie schließlich durch. Drinnen roch es nach Farbe. Zahlreiche Hasen bemalten Eier. In den Wandregalen stapelten sich Kartons.

Ulla erspähte eine offene Tür. Auf einem Schild las sie: M. Lampe, Einkauf. Sie flatterte in den Raum und landete auf einem Schreibtisch, hinter dem ein Hase in Anzug und Krawatte hockte.

„Guten Tag, Herr Lampe!“, gackerte sie mit hochgerecktem Schnabel.

„Tut mir leid, ich habe Feierabend“, sagte er und sprang vom Stuhl.

Das durfte ja wohl nicht wahr sein!

„Herr Lampe, bitte hören Sie mir kurz zu.“

Schweigend hob er eine Aktentasche vom Boden auf und packte seine Butterbrotdose hinein.

„Meine Eier sind einzigartig!“, rief Ulla.

Er gähnte herzhaft.

„Das habe ich heute so oft gehört.“

Herr Lampe zeigte auf eine lange Namensliste.

„Alle diese Hühner legen wundervolle Eier. Wo ist denn dein Muster?“ Er deutete auf eine prall gefüllte Gitterbox. Riesige, große, mittelgroße, kleine, winzige, braune, weiße, grüne, sogar gelbe und graue Eier befanden sich darin.

„Ein Muster habe ich nicht dabei“, seufzte Ulla. „Ich kann Ihnen aber erklären, warum meine Eier so besonders sind.“

Herr Lampe legte den Kopf schief.

„Ich höre.“

Sie räusperte sich. „Sie sind viereckig. So rollen sie nicht weg und man kann sie besser stapeln.“

Er lachte schallend.

„Soll das ein Scherz sein?“, fragte er.

„Nein! Ich werde es Ihnen beweisen.“

„Du bist ja ein komischer Vogel. Na gut. Wenn sie wirklich eckig sind, bekommst du eine Tüte Schnabelgold.“

Die nächsten Tage hockte Ulla ausschließlich im Stall. Sie konzentrierte sich aufs Legen wie nie zuvor. Zunächst war sie mit dem Ergebnis überhaupt nicht zufrieden. Doch dann hörte sie ein Klacken und erblickte unter sich ein viereckiges Ei.

Kurz vor dem Osterfest schnappte sie sich ein Körbchen, das seit Wochen unbenutzt im Stall gestanden hatte, und legte ihre Eier hinein. Sie schob den Behälter durch das Gehege und bugsierte ihn durch das Loch im Zaun. Danach beförderte sie ihn bis zum Firmengelände. Herr Lampe lief bereits vor der Halle auf und ab.

„Mannomann, wo bleibst du? Alle anderen haben bereits geliefert.“

Er schaute in den Korb. Runzelte die Stirn und rümpfte die Nase. Musterte Ulla. Betrachtete wieder die Eier. Plötzlich ging ein Strahlen über sein Gesicht.

„Wie hast du das denn geschafft?“, fragte er.

„Ich habe mich total angestrengt“, antwortete sie.

Er zog eine Tüte aus der Jackentasche und reichte sie Ulla. Beim Anblick der Körner lief ihr das Wasser im Schnabel zusammen.

Auf dem Heimweg fiel ihr ein, dass sie sich nicht bedankt hatte. Sie kehrte um. Herr Lampe stand mit dem Rücken zu ihr und sprach in ein Handy.

„Ich muss dir was erzählen, Boss. Eben war hier ein Huhn, das behauptet hat, es hätte eckige Eier gelegt. Ich habe mir die Dinger angeschaut. Ecken? Fehlanzeige.“

Ein Lachen ertönte aus dem Hörer.

Herr Lampe fuhr fort: „Ich dachte erst, das Hühnchen wollte mich veräppeln. Aber es hat offenbar so fest an sich geglaubt, dass es davon überzeugt war, die Eier wären eckig. Daher hat es sich eine Belohnung redlich verdient, finde ich.“

„Das stimmt“, erklang es wieder aus dem Lautsprecher. „Und was machst du jetzt mit den Eiern?“

„Die nehme ich mit nach Hause. Nächste Woche gibt es bei uns jeden Abend Rührei.“

Veröffentlicht 2021 in Band 7 der Anthologie „Wie aus dem Ei gepellt …“, Papierfresserchens MTM-Verlag, Herausgeberin Martina Meier. In dieser Reihe wurden vier Geschichten von Monika Arend veröffentlicht.